Autismus & Arbeit Herausforderungen, Masking und die Chancen von Neurodiversität

Dieser Blogbeitrag ist aus einem Interview mit Florian Malicke entstanden. Als Autismus-diagnostizierter Inkluencer- ein Wortspiel aus Inklusion und Influencer, das Personen beschreibt, die sich aktiv für Vielfalt und Gleichberechtigung einsetzen - und Coach unterstützt er Unternehmen in den Bereichen Inklusion und Neurodiversität. Gleichzeitig begleitet er Autist*innen – mit und ohne ADHS – in verschiedenen Lebensbereichen. Sein Ziel: Vorurteile über Autismus abbauen und Missverständnisse ausräumen.

Inhalt

In einer Arbeitswelt, die zunehmend auf Vielfalt setzt, rückt das Thema Neurodiversität immer stärker in den Fokus. Autistische und andere neurodivergente Menschen bereichern den Arbeitsalltag mit einzigartigen Stärken – sei es durch kreative Lösungsansätze, detailorientiertes Arbeiten oder das kritische Hinterfragen etablierter Prozesse. Damit diese Potenziale voll ausgeschöpft werden können, braucht es ein Arbeitsumfeld, das ihre Bedürfnisse berücksichtigt und ihre Stärken fördert. Dabei liegt die Verantwortung nicht nur bei der Führungsebene – jede*r Mitarbeitende kann aktiv dazu beitragen, ein inklusives Arbeitsklima zu schaffen.

Trotz ihrer wertvollen Fähigkeiten und Perspektiven stoßen autistische Menschen im Berufsalltag oft auf große Herausforderungen. Missverständnisse, Reizüberflutung und das sogenannte „Masking“ – das Verbergen autistischer Verhaltensweisen – erschweren den Arbeitsalltag erheblich. Doch genau hier liegt eine Chance für Unternehmen: Wer neurodivergente Personen aktiv einbindet, kann von neuen Denkansätzen, innovativen Lösungen und einer vielfältigeren Unternehmenskultur profitieren.

Neurodiversität, Neurodivergenz & Autismus – Was steckt dahinter?

Wenn Du beim Lesen nun dachtest: “Neuro-was? Autismus? Worum geht es hier genau?” – hier eine kurze Erklärung der zentralen Begriffe dieses Artikels:

Neurodiversität bezeichnet die natürliche Vielfalt neurologischer Strukturen und Funktionen in der menschlichen Bevölkerung. Sie umfasst die Tatsache, dass Menschen auf unterschiedliche Weise denken, lernen und wahrnehmen.

Neurodivergenz bezieht sich auf individuelle Menschen, deren neurologische Entwicklung von der sogenannten „Norm“ abweicht. Dazu gehören Menschen mit Autismus, ADHS, Dyslexie und anderen neurologischen Besonderheiten. Je nach Definition gelten etwa 20% der Menschen als neurodivergent.

Die neurotypische Welt bezeichnet eine Gesellschaft oder Umgebung, die sich an den Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensweisen von nicht-neurodivergenten Menschen orientiert.

Autismus ist eine Form der Neurodivergenz und beschreibt eine neurologische Besonderheit, bei der das Gehirn Informationen anders verarbeitet. Autistische Menschen erleben die Welt oft intensiver und haben dadurch einzigartige Stärken aber auch Herausforderungen. Die WHO definiert Autismus als Spektrum (was auf Spannbreite der Charakterstika hindeutet) und beschreibt vor allem Besonderheiten in der sensorischen Reizverarbeitung, der sozialen Interaktion sowie in der Wichtigkeit von Struktur, Mustern & Routinen.

 

Herausforderungen für autistische Menschen im Arbeitsumfeld

Die moderne Arbeitswelt, die oft auf Großraumbüros und schnelle Kommunikation setzt, ist für autistische Menschen häufig eine Belastung. Florian beschreibt die alltäglichen Herausforderungen:

„In einem Großraumbüro fällt es mir schwer, die Reize auszublenden, die andere Menschen vielleicht gar nicht bewusst wahrnehmen. Das Summen der Leuchtstoffröhren, das Klackern der Tastatur – das alles wird für mich zu einem lauten Hintergrundgeräusch, das mich belastet.“

Diese sensorische Überreizung führt nicht nur zu Stress, sondern beeinträchtigt auch die Arbeitsleistung. Es ist schwierig, sich zu konzentrieren, wenn das Gehirn ständig mit der Verarbeitung von Umgebungsreizen beschäftigt ist.

Zusätzlich stellen soziale Interaktionen und spontane Aufgaben eine weitere Herausforderung dar. Autistische Menschen bevorzugen oft klare, strukturierte Anweisungen und tun sich schwer mit unvorbereiteten Gesprächen oder unerwarteten Änderungen im Arbeitsablauf. Florian erklärt: "Wenn jemand spontan etwas von mir möchte, setzt mich das unter Stress. Aufgaben, die vorher angekündigt und klar strukturiert sind, kann ich viel besser bewältigen."

Masking: Der unsichtbare Kampf

Viele autistische Menschen greifen auf „Masking“ zurück, um in einer neurotypischen Welt zurechtzukommen. Dabei handelt es sich um das bewusste Verbergen autistischer Verhaltensweisen, um den Anforderungen einer neurotypischen Arbeitswelt zu entsprechen. Florian erklärt:

„Masking war mein Überlebensmechanismus. Ich habe früh begonnen, mich anzupassen, Verhaltensweisen von anderen zu imitieren, um nicht aufzufallen. Doch das hat mich auf Dauer krank gemacht.“

Dieses ständige Verstellen führt zu enormer psychischer Belastung. Viele autistische Menschen entwickeln im Laufe ihres Lebens Komorbiditäten – also zusätzliche psychische oder körperliche Erkrankungen, die gemeinsam mit Autismus auftreten. Dazu gehören beispielsweise Angststörungen, Depressionen oder Burnout, da die permanente Anpassung an die Erwartungen der Gesellschaft sehr anstrengend ist. Florian beschreibt seine eigene Erfahrung:

„Ich habe Masking betrieben, um akzeptiert zu werden, aber der Preis war hoch. Ich habe früh eine Angststörung entwickelt und litt später unter Depressionen. Es kostet unglaublich viel Energie, nicht man selbst sein zu können.“

Masking ist ein unsichtbarer Kampf, den viele autistische Menschen tagtäglich führen – und der oft übersehen wird. Es ist entscheidend, dass Unternehmen ein Umfeld schaffen, in dem neurodivergente Menschen sich authentisch verhalten dürfen, ohne das Gefühl zu haben, sich verstellen zu müssen.

Die Stärken autistischer Menschen

Trotz der Herausforderungen bringen autistische Menschen zahlreiche Stärken und Fähigkeiten mit, die für Unternehmen von großem Wert sein können. Florian hebt besonders ihre Loyalität hervor: „Autistische Menschen bleiben dort, wo sie sich wohlfühlen. Sie sind loyal und geben ihr Bestes, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.“

Diese Loyalität ist ein entscheidender Vorteil in Zeiten hoher Fluktuation. Darüber hinaus erklärt Florian: „Autistische Menschen haben oft ein besonderes Talent für analytisches Denken. Sie hinterfragen den Status quo und bringen kreative Lösungen ein.“ Viele zeichnen sich zudem durch eine außergewöhnliche Detailgenauigkeit aus und betrachten Herausforderungen aus Perspektiven, die anderen möglicherweise verborgen bleiben.

Ein weiterer Aspekt ist ihre klare und direkte Kommunikation. Während neurotypische Menschen häufig zwischen den Zeilen lesen, bevorzugen viele autistische Personen eine offene, eindeutige Ausdrucksweise. Dies kann besonders vorteilhaft für Unternehmen sein, die Wert auf Ehrlichkeit und Klarheit legen. Florian ergänzt: „Wir sind oft sehr direkt. Man weiß bei uns, woran man ist – das kann für viele Teams äußerst wertvoll sein.“

Wie wir alle zur Inklusion beitragen können

Die Vorteile, die neurodivergente Menschen in die Arbeitswelt einbringen, sind vielfältig. Doch damit autistische Mitarbeitende ihre Stärken voll entfalten können, müssen Unternehmen aktiv daran arbeiten, ein inklusives Umfeld zu schaffen. Das beginnt bei einer offenen und bewussten Unternehmenskultur, die Neurodiversität nicht nur toleriert, sondern wertschätzt.

Ein inklusives Umfeld zu schaffen, ist eine gemeinsame Aufgabe, bei der jede*r von uns aktiv werden kann. Hier sind einige konkrete Ansätze:

  • Klare Kommunikation: Nutze klare, strukturierte Sprache in Meetings und bei der Aufgabenverteilung. Das hilft nicht nur neurodivergenten Kolleg*innen, sondern schafft auch für alle ein besseres Verständnis.
    „Wenn Aufgaben klar definiert und im Voraus geplant sind, können autistische Menschen effizienter arbeiten“, betont Florian.
  • Ruhige Arbeitsbereiche: Schlage vor, Rückzugsräume im Büro zu schaffen, in denen alle konzentriert arbeiten können. Diese Bereiche sind besonders hilfreich für neurodivergente Menschen, die leicht von Reizen überflutet werden.
    „Ein ruhiger Arbeitsplatz hilft mir, meine Aufgaben besser zu erledigen.“ – Florian
  • Flexibilität und Verständnis: Sei flexibel im Umgang mit Kolleg*innen und biete Unterstützung an, wenn jemand überfordert ist. Zeige Empathie und Verständnis für unterschiedliche Arbeitsweisen und Bedürfnisse.
  • Selbst Initiative ergreifen: Sprich das Thema Neurodiversität in Deinem Team an, teile Ressourcen und informiere Dich über die Bedürfnisse Deiner Kolleg*innen. So kannst Du ein Bewusstsein schaffen und dazu beitragen, Vorurteile abzubauen.

 

Ein schwarz-weißes Abbild eine Mauer

Es ist wichtig zu verstehen, dass neurodivergente Menschen nicht „geheilt“ oder „angepasst“ werden müssen. Sie brauchen lediglich ein Umfeld, das ihre einzigartigen Stärken fördert und ihnen die Möglichkeit gibt, authentisch zu sein. "Führungskräfte müssen sich bewusst machen, dass neurodivergente Menschen anders arbeiten, denken und kommunizieren“, erklärt Florian.

Doch liegt es nicht nur in der Verantwortung von Führungskräften, sondern bei jedem Einzelnen, eine Arbeitskultur zu fördern, in der autistische und andere neurodivergente Mitarbeitende nicht das Gefühl haben, sich durch Masking anpassen zu müssen. Denn nur in einem Umfeld, das Authentizität ermöglicht, können autistische Menschen ihr volles Potenzial entfalten – und genau das ist der Schlüssel für eine zukunftsorientierte, diverse Arbeitswelt. Autismus und Neurodiversität sind keine Hindernisse – sie sind Chancen, die Vielfalt und Kreativität in den Arbeitsalltag zu bringen. Lass uns diese Chancen nutzen und gemeinsam eine inklusivere, offene und unterstützende Arbeitswelt gestalten.

Fazit: In der passenden Umgebung können wir alle unser volles Potenzial entfalten

Autistische Menschen bringen wertvolle Stärken in den Arbeitsalltag ein, doch sie stehen auch vor besonderen Herausforderungen. Unternehmen, die aktiv daran arbeiten, Barrieren abzubauen und ein inklusives Umfeld zu schaffen, profitieren nicht nur von der Loyalität und dem analytischen Denken autistischer Menschen, sondern auch von neuen, kreativen Lösungsansätzen. Flexible Arbeitszeiten, klare Kommunikation und Rückzugsräume sind nur einige der Maßnahmen, die einen großen Unterschied machen können.

About Florian Malicke

Florian Malicke ist Autist, lebt mit ADHS und verfügt über 30 Jahre Erfahrung im beruflichen Umgang mit neurodivergenten Menschen. Als "Inkluencer" bietet er Coaching und Beratung für erwachsene Autist*innen sowie Menschen mit AuDHS (Autismus + ADHS) an. Zudem ist er ein gefragter Referent für Workshops, Keynotes und Vorträge.

Autorinnen

Der Artikel wurde erstellt und bearbeitet von Andrea Spangenberg (systemische Coach und kreative Transformationsbegleiterin, zum LinkedIn-Profil) und Lotta Fink (Psychologiestudentin und Praxisassistenz, zum LinkedIn-Profil).

Weitere Insights

  • Eine lächelnde Frau sitzt in lässiger Kleidung am Fenster

    Wie finde ich einen Psychotherapieplatz?

    Die Suche nach einem Therapieplatz kann sich oft als komplex und herausfordernd erweisen. Ein Leitfaden für einen klaren und strukturierten Weg zu einem Psychotherapieplatz

    Mehr erfahren
  • Mann mit Brille hält einen kleinen Hund und lächelt, während er die Augen geschlossen hat

    Resilienztrainings in Unternehmen. Ein zweischneidiges Schwert.

    Ein Blogartikel inklusive der 10-Punkte-Checkliste für gut gestaltete Resilienztrainings.

    Mehr erfahren